Wandern

Paris, 20.10.22

Parc de Belleville. Die Clochards schlafen noch in ihren Unterständen. Eine einsame Katze trottet die Stufen hinab. In der Ferne ist das Klicken einiger Tischtennisspieler zu hören, gepaart mit ihren aufgeregten Stimmen. Chinesisch, nehme ich an, jedenfalls nicht auf Französisch. Es hat geregnet. Die Wege schimmern nass und das Laub des Oktober liegt zermatscht und zertreten überall herum. Es muss schön sein im Sonnenschein. Jetzt ist die Szene erfüllt von einer atemberaubenden Melancholie.

In der Ferne kann ich den Tour de Montparnasse sehen. Überhaupt erobert gerade die Sonne die Szenerie. Die weißen Hochhäuser in der Ferne reflektieren die Strahlen.

Erstaunt stelle ich fest, dass hier oben, am höchsten Punkt des Bellevies, sogar Wein angebaut wird.

Und dann, am Belvedere Willy Ronis, meine erste Begegnung mit dem Eiffelturm, der zwischen den Bäumen auftaucht. Hätte ich einen besseren Ort für meinen ersten Morgen in Paris auswählen können?

Weiter zum Parc des Buttes-Chaumont. Einer der größten Parks in Paris – und einer der Schönsten. Die Sonne ist unzuverlässig an diesem Morgen. Aber ich habe Glück in anderer Beziehung. Als ich zum Sybillentempel will, schließen Arbeiter gerade den Weg. Ich bin einer der Letzten, die noch über die rote Hängebrücke kommen, bevor die Arbeiten aufgenommen werden.

Statt weiter zum Tempel gehe ich also hinunter zum See. Enten und Schwarzkopfgänse schwimmen unambitioniert herum und schnattern die Spaziergänger an. Jogger drehen ihre Runden, junge Mütter mit Kinderwagen, ganze Trupps von Reisegesellschaften, bewaffnet mit Nordic Walking Sticks. Ein paar Wildgänse besuchen mich, schauen mich neugierig an, plustern sich auf und spreizen die Flügel, um ihr territoriales Vorrecht zu signalisieren. Als nichts weiter passiert, fangen sie an zu grasen.

Und ich? Ich umrunden den See, muss dann aber feststellt, dass die Grotte wegen der gleichen Steinschlaggefahr, die mich bereits vom Sybillentempel ferngehalten hat, geschlossen ist. Kein Wasserfall donnert herab, die halbe Grotte ist ohnehin gesperrt. Ich versuche die Stelle zu finden, an der Eric Rohmer ‘La femme de l’aviateur” gedreht hat, bin mir aber nicht sicher.

Schließlich verlasse ich den Park in Richtung Quartier des Mouzaïa. Es ist eins der Viertel, die mir als Glücksorte empfohlen wurden. Und die Straßen sind wirklich sehr malerisch, viel Kopfsteinpflaster, üppiges Grün, bunt bemalte Häuser. Eine weiße Katze liegt neben einer Eingangspforte und mauzt mich klagend an, als ich stehen bleibe.

Den Abschluss der Tour soll der Parc des Chapeau Rouge bilden. Die Aussicht von dort ist toll, leider zeigt die offene Fläche in Richtung Vororte im Norden. Die Tristesse holt mich hier ein.

Ich drehe um und will mit der Metro zurück. Aber wir sind in Paris. Aufgrund eines Streiks wegen irgendwelcher Umweltthemen fährt die oberirdischen 7b nicht. Also zu Fuß zurück ins Zentrum, ein wenig beschleunigt, denn der Akku meines Handys gibt den Geist auf. Und ohne Google Maps und Komoot bin ich absolut hilflos in der Stadt.

Zurück im Hotel ziehen ich mich erst einmal um, durchgeschwitzt, wie ich bin. Für den Nachmittag ist ein Gewitter angesagt. Unter dem Schutz der Metro mache ich mich auf in Richtung Montmartre, der schönsten Straße von Paris, der Rue de l’Abreuvoir, einen Besuch abstatten.

Der Montmartre trifft mich mit voller Breitseite. Eine Frau singt auf offener Straße “La Boheme”, sehr überzeugt von ihrer Stimme, mit großem Patos und großen Gesten. Und ich, ich singe im Geiste mit und kämpfe mit den Tränen. Denn auch ich bin keine Zwanzig mehr und habe viele meiner Träume mittlerweile aufgegeben.

Ganz ähnlich ergeht es mir wenig später bei einem Akkordeonspieler. Auf seinem Instrument liegt eine schwarze Katze und ein wenig lustlos zitiert er diverse Paris-Standards, “Sous les ciels de Paris” und so. Wieder kommen mir die Tränen, ohne dass ich recht erklären könnte, warum.

Ich gehe ein paar Schritte weiter, zu jener Stelle, an der Charlie vor vielleicht vierzig Jahren den auf dem Pflaster ausgestreckten Betrunkenen fotografiert hat, jenes Bild, das noch heute in meiner Küche hängt.

Damals war jene Ecke des Montmartre abgeschieden und menschenleer. Heute tummeln sich selbst dort die Touristen. Die Parkbank, vor der der Betrunkene auf dem Boden lag, ist noch da. Ich habe kein Vergleichsfoto gemacht – mit all den Menschen wäre es witzlos.

Vor der Büste der Dalida, unten an der Rue d’Abreuvoir, produziert sich ein italienischer Fremdenführer, der mir erzählt, dass er eigentlich an einem eigenen Comedy-Programm arbeitet und er die Führungen nur des Geldes wegen macht. Ich frage ihn ein wenig verständnislos, ob er wirklich von sich redete. Wie mir scheint, ist unser ganzes Leben eine Comedy-Nummer. Ich habe ihn, glaube ich, mit meiner Frage verärgert.

Abschließend noch einen Abstecher ins Quartier Latin, zum Place de l’Estrapade, Emily besuchen. Sie war aber nicht zu Hause. Immerhin, das Restaurant am anderen Ende des Platzes öffnete gerade – ein Italiener. Ich überlegte kurz, dort zu Abend zu esse, entschied mich aber dagegen. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht will ich einfach nicht meine Fantasie mit der Realität vermengen.

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